Sehen als kreativer Akt
Margit Zuckriegl
Sehen an sich, als sinnlicher Akt der bildlichen Erfassung von äußeren Erscheinungen, ist per se keine kreative, sondern eine physiologische Tätigkeit. Erst die gedankliche und konzeptive Erkenntnis, dass bestimmte gesehene Situationen und Objekte auf andere rekurrieren, erzeugt die Möglichkeit, im Moment des Sehens gleichermaßen auch eine kreative Leistung zu vollbringen, indem Vergleiche, Anmutungen, Erinnerungen und symbolhafte oder formal entsprechende Konnotationen abgerufen werden. Dem Akt des Sehens liegt demnach nicht bloß die Wahrnehmung eines Objekts zugrunde, sondern auch das Potenzial, von dem gesehenen Objekt auf andere zu schließen oder andere Kontexte zu eröffnen. Julie Hayward lässt den Betrachter ihrer fotografischen Bilder an ihrem subjektiv artikulierten Sehvorgang teilnehmen. Sie sieht auf ihren Wald- und Wiesenwanderungen, auf ihren Streifzügen im Überschwemmungsgebiet, in den Donauauen und im halbhohen Röhricht von Uferlandschaften seltsame Formationen, die ohne das Zutun einer kreativen Willensäußerung zu quasi-plastischen Gestaltungen geworden sind. Möglich wird dieses Sehen von unwillkürlichen Skulpturen allein durch einen kreativen Sehvorgang: Es ist der Blick der Bildhauerin, der Sichtbarkeit erzeugt. Ohne dieses Erkennen, dieses Heraussezieren aus einer amorphen, ungestalteten Umgebung wären diese Objekte der Unsichtbarkeit überantwortet geblieben.
Und der Blick der Künstlerin auf die zufällig aufgefundenen Objekte ist nicht von dem Streben nach kognitiver Erkenntnis getragen, sondern durch die Fähigkeit zum Aufspüren von sinnlich erfahrbaren Qualitäten, formalen Entsprechungen und plastischen Valeurs gekennzeichnet. Das wie eine abstrakte Plastik anmutende Mini-Mäuerchen wird für die Künstlerin und die Betrachter nicht interessant, weil sich damit ein (vielleicht aufgegebenes) Bauvorhaben und oder eine (vielleicht willkürlich gesetzte) Grenzmarkierung verbindet, sondern weil es die Ziele und Anforderungen von Abstraktion im skulpturalen Gestalten fast ebenso rein formuliert wie Kunstwerke aus dem Bereich von konkreter Kunst oder Neo-Geo. Ein um einen Baumstamm gewickeltes Gewirr von Ästen, Stofffetzen und Schnüren ist demnach nicht ein angeschwemmtes Bündel von Treibgut nach einem Hochwasser, sondern ein verwandtes Objekt zu informellen Spurensetzungen von Land-Art oder Environment-Künstlern. Für die Künstlerin, die in ihrem eigenen kreativen Schaffen die Materialqualitäten ihrer Werkstoffe genau hinterfragt und in ihrer Konsequenz oder Widersprüchlichkeit vorführt, sind es eben jene Charakteristika an den Zufallsfunden in ihrer Umgebung, die ihr Interesse wecken: umwickelte Baumstämme, denen etwas von kultischen Stelen eignet, in Planen eingeschlagene und verschnürte Gartenplastiken, die wie magische Kultzeichen aufragen, oder krakeliges Wurzelwerk, das einem Totem gleich auf Jenseitswelten verweist. Hier ist Sehen ein Akt der Selektion, der Adoption in ihr eigenes künstlerisches Œuvre, indem sie die Objekte mittels ihrer fotografischen Aufnahmen in den skulpturalen Kontext eingliedert.
Seit 2002 integriert Julie Hayward fallweise Fotografien in ihre Ausstellungskonzepte und seit 2010/11 treibt sie ihr eigenes fotografisches Schaffen kontinuierlich voran. Waren es anfangs eher zufällige Motive, die sie auf ihren Streifzügen „sammelte“ und die sie in formale Beziehung zu ihren Zeichnungen und Objekten setzte, also gleichsam verwandte Objektqualitäten in verschiedenen Formgestaltungen ausmachte, so zielte sie mit den späteren Fotos eher auf das Atmosphärische. Unklare Konstellationen (etwa einer Lampe in einem Raum oder einer Meeresqualle, hinter der Menschenschemen auftauchen) atmen so etwas wie Beklemmung, Unsicherheit, Verstörung im kleinsten, komprimierten Format. Dies strömt über auf den Raum, der von Haywards Skulpturen, Objekten und Zeichnungen eingenommen wird – eine sinnlich-emotionale Entsprechung von Fotografie zu Raumsituation, in dem die Fotos wie Kraftquellen wirken.
Neu hinzu kommen in den letzten Jahren die Fotos von gefundenen Objekten, gleichsam von „unwillkürlich“ zu Objekten gewordenen Fund-Situationen – Verpackungen, Verschnürungen, Zusammenstellungen von fremder, anonymer Hand an unspezifischen, zufällig aufgefundenen Orten.
Im breiten Spektrum der fotografischen Stile und Ästhetiken ist die Herangehensweise von Julie Hayward schwer einzuordnen; sie passt weder in die Kategorie der Dokumentarfotografie noch in die der Kunstfotografie. Haywards fotografischer Impetus ist der des Sehens und des Festhalten von gesehenen Objekten und Situationen. Sie verweist damit auf die „assoziative“ Dimension im Bilder-Lesen, indem sie die plastischen Qualitäten der von ihr aufgespürten Gegenstände zu denen ihrer eigenen Artefakte in Relation setzt. So wie sie in ihren Plastiken an den Gesetzmäßigkeiten von Gleichgewicht und Labilität interessiert ist, an den Aggregatzuständen von Materie zwischen Fließen, Verhärten und zäh Schmelzen, so sind es die Unsicherheiten und Irrealitäten, bisweilen das anekdotenhaft Skurrile an den gesehenen Objekten im Naturraum oder in Parks, die ihr auffallen. Mit manchmal absichtlich unscharfer, ja geradezu fehlerhaft gehandhabter Fotografie, bei der es Fehlfarben und Unschärfen, Über- und Unterbelichtungen geben kann, dokumentiert sie die spontan aufgefundenen Gegenstände. Dennoch ist es ein genaues Herausarbeiten der Objekte aus ihrer Umgebung, ein Abwägen von beleuchteten Teilen und unbeleuchteter Sphäre, ein Meißeln mit Licht, ein Formen mit Schatten, ein Sezieren mit Konturen und ein Festhalten von Zeit, die sich in Helligkeit und Dunkelheit auf den Objekten abzeichnet.
Julie Hayward ist keine Verfechterin oder Apologetin einer bestimmten fotografischen Praxis. Sie agiert mit den technischen und optischen Möglichkeiten ganz nach den Erfordernissen ihrer Bild-Objekte: mal ist das Statisch-Kontemplative einer fixierten Kamera gefragt, mal das Spontan-Zupackende einer kleinen Digicam, mal ist es das genaue Hantieren mit einer ausgefeilten Optik, mal kann sie ganz darauf verzichten und vertraut sich den Eigengesetzlichkeiten der Kamera an.
Die Summe dieser Fotografien mutet weniger wie eine kontinuierlich vorangetriebene Serie oder ein vorab entworfener Zyklus an, sondern setzt sich aus den ikonischen Beutezügen zusammen, die die Künstlerin auf ihren ausgedehnten Spaziergängen und Querfeldeinwanderungen unternimmt. Eine pointiert akzentuierte Farbigkeit, für die sich die digitalen Medien besonders eignen, ist die einzige Veränderung, die die Künstlerin an ihren teils analogen, teils digitalen Aufnahmen vornimmt und die den aufwändigen Pigmentprints eine unwirkliche, künstliche Atmosphäre verleiht.
Unwillkürliche Skulpturen
Bilder-Finden anstatt Bilder-Herstellen – dies war erstmals im Surrealismus eine Strategie, Kunst jenseits von Kunst in den eigenen kreatürlichen Kosmos zu integrieren. Der von den Surrealisten der ersten Stunde sehr geschätzte Fotograf Brassaï, berühmt für seine Sicht auf das nächtliche Paris und auf die Protagonisten der Demi-Monde, hatte seine Vorliebe für die Randerscheinungen der Kunst und die spontanen Entäußerungen ungewollter Kunstproduktion entdeckt. Er schuf eine Serie von Fotografien, die er „sculptures involontaires“ nannte und die André Breton in seiner Zeitschrift „Minotaure“ 1933 veröffentlichte. Seine „unwillkürlichen Skulpturen“ sind Fotografien von Alltagsgegenständen, banalen Objekten, weggeworfenen Dingen, denen er durch sein Sehen und Sichern mittels Fotografie eine verstörende poetische Bedeutung zukommen ließ: ein geknicktes Busticket, ein eingerolltes Zettelchen, drei liegende Streichholzköpfchen, ein Stück Seife – Brassaïs Augenmerk galt dem Unscheinbaren, dem Übersehenen, dem Nicht-Ansichtigen. Er sah die irritierende Schönheit dieser „Skulpturen“, die unwillkürlich ihre plastische Gestaltung angenommen hatten – sie sind nicht „gemachte“ Kunst, sondern „gewordene“ Objekte. Und diesen Bildern attestierten Brassaï und die Surrealisten „Kunstcharakter“, ja sie galten möglicherweise mehr als herkömmlich angefertigte Kunstwerke, da sie – den Surrealisten entsprechend – etwas Unbewusstes, Ungewolltes und damit Authentisches hatten.
Wie in den Fotografien von Julie Hayward ging es bei Brassaï und seiner Rezeption durch die Surrealisten eben nicht um die Objekte und deren Präsenz, sondern um die Bilder von diesen Gegenständen. Diese Fotografien zeichnen sich also nicht durch ihre dokumentierende Sprache und die indexikalische Mitteilung aus, sondern dadurch, dass sie eine eigene Bildwirklichkeit erst herstellen. Und vom Betrachter wird erwartet, dass er den ursprünglichen Funktionszusammenhang und die eigentliche Genese der abgebildeten Gegenstände „vergisst“. So wie im Normalfall beim Lesen und Analysieren von Bildern dem Faktum der Erinnerung große Bedeutung zukommt, also dem Miteinbringen von Gewusstem in die Bildinterpretation, so wird im speziellen Fall der „unwillkürlichen Skulpturen“ gerade darauf explizit verzichtet. Gesehen werden soll die plastische Qualität der abgebildeten Gegenstände, und mit dem Erkennen dieser Charakteristika kann sich dann eine formale und emotionale Entsprechung einstellen. Brassaïs Fahrschein gibt nicht Auskunft über eine individuelle Metrostation oder einen bestimmten Tag, sondern über die Dreidimensionalität einer Kartonrolle von matter, rauer Oberfläche, wobei die Isolation des Objekts aus jeder Art von lesbarer Umwelt auch die tatsächliche Größe und Abmessung des ursprünglichen Gegenstandes im Dunkeln lässt. Julie Hayward konfrontiert den Betrachter mit einer Ansammlung von anonymen Situationen an unbestimmten Orten. Dominiert werden diese kryptischen Szenarien von unwillkürlichen Skulpturen, Objekten und Dingen, die zu etwas geworden sind, was niemand intendiert hat. Was sie ursprünglich waren, mögen sie selbst schon vergessen haben – für die Fotografie wurden sie zu Bildmotiven, die einen assoziativen Freiraum für Bildanalogien eröffnen. Hier hakt die Fotografin ein, die als Künstlerin von der symbolischen Gestaltung von Welt durch Bilder überzeugt ist, und trifft auf die Bildhauerin, die in der Welt die gestalteten Objekte ausmacht. Julie Haywards Welt ist voll von symbolischen Anspielungen und Erweiterungen. Als Mittel des Antriebs für die Imagination dient ihr das formale Repertoire ihrer skulpturalen Objekte: dies deutet auf ein medizinisches Gerät hin, jenes auf ein technisches Detail, dieses Material steht für perfekte Verarbeitung und Präzision, jenes für ungute haptische Erfahrung, diese Farbe bedeutet Kälte und Distanz, jene Sinnlichkeit und Wärme. Aus diesen Komponenten setzt sie neue, unbekannte, unerkannte Objekte zusammen, die ebenso über ihre bloße Präsenz hinausweisen: Wozu mögen sie dienen, sind sie unheimlich, symbolisieren sie eine unbekannte Dimension?
Indem wir die ursprüngliche Genese der fotografierten Gegenstände zu vergessen trachten, können wir sie dem formalen Vokabular und damit dem individuellen Symbolschatz von Haywards Œuvre zuweisen und ihnen neben den willkürlichen Skulpturen der Künstlerin eine Existenz als Bilder von unwillkürlichen Skulpturen attestieren.
Der Raum des Plastischen
Da im Allgemeinen KünstlerInnen, die sich mit dreidimensionalen Gestaltungen befassen, nach den Werken ihrer kreativen Tätigkeit benannten werden, also ObjektkünstlerInnen, BildhauerInnen oder Raum- beziehungsweise InstallationskünstlerInnen, so ergibt sich ein Rückschluss beziehungsweise eine Rückkoppelung von der Phänomenologie des Werkes auf dessen physische Präsenz. Notwendigerweise hat eine Skulptur, ein Objekt, ja auch eine Performance oder eine Projektion eine vorhandene räumliche Gegebenheit als Grundvoraussetzung. Nur im Raum (und sei es der mediale, scheinbar grenzenlose Raum des World Wide Web) manifestiert sich die Anwesenheit einer künstlerischen Artikulation. Das Werk wird vom Rezipienten durch seinen visuellen Dialog mit dem Kunstobjekt erfahren und wahrgenommen. Dies ist der Sinn von Kunstpräsentationen, sei es im Galerieraum, im Künstleratelier, im Museum, im „Schau-Raum“ von Katalogen und Kunstbüchern, von Vorträgen oder partizipatorischen Projekten. Raum wird für und durch Kunstobjekte gestaltet.
Mit ihren neuen Ausstellungskonzeptionen überschreitet Julie Hayward nun diese gläsernen Wände der Kunst-im-Raum-Präsentation, insofern sie einerseits diese Raumdimension für die Präsentation ihrer objekthaften Werke, ihrer installativen Arrangements nutzt, andererseits aber einen neuen Raum des Plastischen einführt. Sie kommentiert und erweitert ihr eigenes plastisches Schaffen mittels Fotografien, die eine zusätzliche Raum- und Objekterfahrung ermöglichen: in der Kombination ihrer komplexen Skulpturen aus Metall und Kautschuk, ihrer geronnenen Artefakten aus Gussformen und Modeln mit den gänzlich anders gearteten Fotografien ergibt sich ein spannungsgeladenes Gegenüber von Ähnlichkeit und Differenz, von Entsprechungen und dem unauslotbaren Raum zwischen formalen Verwandtschaften und inhaltlichen Antipoden.
In ihrem sporadischen fotografischen Werk ist Julie Hayward – wie in ihren skulpturalen Positionen – ganz „Seherin des Räumlichen“; sie ist dem Raum des Plastischen auf der Spur und macht ihn in ihrer unmittelbaren Umgebung aus. Indem sie der Natur, den unwillkürlichen Kräften und Energien von Wasser und Wind, Vegetation und Erdreich wie auch den Resten und Zeichen von menschlichen Alltagshandlungen gestalterisches Potenzial zugesteht, adoptiert sie diese „Raumansichten“ in ihr plastisches Werk. Der Raum des Plastischen ist damit für Julie Hayward der potenziell immer vorhandene Raum für skulptural Gestaltetes – unabhängig davon, ob ein Kunst-Raum mit installativen Objekten definiert wird, ob ein Natur-Raum zur Szene für unwillkürliche Kunstwerke wird oder ob ein medialer Raum als Plattform für die Auseinandersetzung mit den Besonderheiten von Wahrnehmung ganz allgemein dient.
Sehen an sich, als sinnlicher Akt der bildlichen Erfassung von äußeren Erscheinungen, ist per se keine kreative, sondern eine physiologische Tätigkeit. Erst die gedankliche und konzeptive Erkenntnis, dass bestimmte gesehene Situationen und Objekte auf andere rekurrieren, erzeugt die Möglichkeit, im Moment des Sehens gleichermaßen auch eine kreative Leistung zu vollbringen, indem Vergleiche, Anmutungen, Erinnerungen und symbolhafte oder formal entsprechende Konnotationen abgerufen werden. Dem Akt des Sehens liegt demnach nicht bloß die Wahrnehmung eines Objekts zugrunde, sondern auch das Potenzial, von dem gesehenen Objekt auf andere zu schließen oder andere Kontexte zu eröffnen. Julie Hayward lässt den Betrachter ihrer fotografischen Bilder an ihrem subjektiv artikulierten Sehvorgang teilnehmen. Sie sieht auf ihren Wald- und Wiesenwanderungen, auf ihren Streifzügen im Überschwemmungsgebiet, in den Donauauen und im halbhohen Röhricht von Uferlandschaften seltsame Formationen, die ohne das Zutun einer kreativen Willensäußerung zu quasi-plastischen Gestaltungen geworden sind. Möglich wird dieses Sehen von unwillkürlichen Skulpturen allein durch einen kreativen Sehvorgang: Es ist der Blick der Bildhauerin, der Sichtbarkeit erzeugt. Ohne dieses Erkennen, dieses Heraussezieren aus einer amorphen, ungestalteten Umgebung wären diese Objekte der Unsichtbarkeit überantwortet geblieben.
Und der Blick der Künstlerin auf die zufällig aufgefundenen Objekte ist nicht von dem Streben nach kognitiver Erkenntnis getragen, sondern durch die Fähigkeit zum Aufspüren von sinnlich erfahrbaren Qualitäten, formalen Entsprechungen und plastischen Valeurs gekennzeichnet. Das wie eine abstrakte Plastik anmutende Mini-Mäuerchen wird für die Künstlerin und die Betrachter nicht interessant, weil sich damit ein (vielleicht aufgegebenes) Bauvorhaben und oder eine (vielleicht willkürlich gesetzte) Grenzmarkierung verbindet, sondern weil es die Ziele und Anforderungen von Abstraktion im skulpturalen Gestalten fast ebenso rein formuliert wie Kunstwerke aus dem Bereich von konkreter Kunst oder Neo-Geo. Ein um einen Baumstamm gewickeltes Gewirr von Ästen, Stofffetzen und Schnüren ist demnach nicht ein angeschwemmtes Bündel von Treibgut nach einem Hochwasser, sondern ein verwandtes Objekt zu informellen Spurensetzungen von Land-Art oder Environment-Künstlern. Für die Künstlerin, die in ihrem eigenen kreativen Schaffen die Materialqualitäten ihrer Werkstoffe genau hinterfragt und in ihrer Konsequenz oder Widersprüchlichkeit vorführt, sind es eben jene Charakteristika an den Zufallsfunden in ihrer Umgebung, die ihr Interesse wecken: umwickelte Baumstämme, denen etwas von kultischen Stelen eignet, in Planen eingeschlagene und verschnürte Gartenplastiken, die wie magische Kultzeichen aufragen, oder krakeliges Wurzelwerk, das einem Totem gleich auf Jenseitswelten verweist. Hier ist Sehen ein Akt der Selektion, der Adoption in ihr eigenes künstlerisches Œuvre, indem sie die Objekte mittels ihrer fotografischen Aufnahmen in den skulpturalen Kontext eingliedert.
Seit 2002 integriert Julie Hayward fallweise Fotografien in ihre Ausstellungskonzepte und seit 2010/11 treibt sie ihr eigenes fotografisches Schaffen kontinuierlich voran. Waren es anfangs eher zufällige Motive, die sie auf ihren Streifzügen „sammelte“ und die sie in formale Beziehung zu ihren Zeichnungen und Objekten setzte, also gleichsam verwandte Objektqualitäten in verschiedenen Formgestaltungen ausmachte, so zielte sie mit den späteren Fotos eher auf das Atmosphärische. Unklare Konstellationen (etwa einer Lampe in einem Raum oder einer Meeresqualle, hinter der Menschenschemen auftauchen) atmen so etwas wie Beklemmung, Unsicherheit, Verstörung im kleinsten, komprimierten Format. Dies strömt über auf den Raum, der von Haywards Skulpturen, Objekten und Zeichnungen eingenommen wird – eine sinnlich-emotionale Entsprechung von Fotografie zu Raumsituation, in dem die Fotos wie Kraftquellen wirken.
Neu hinzu kommen in den letzten Jahren die Fotos von gefundenen Objekten, gleichsam von „unwillkürlich“ zu Objekten gewordenen Fund-Situationen – Verpackungen, Verschnürungen, Zusammenstellungen von fremder, anonymer Hand an unspezifischen, zufällig aufgefundenen Orten.
Im breiten Spektrum der fotografischen Stile und Ästhetiken ist die Herangehensweise von Julie Hayward schwer einzuordnen; sie passt weder in die Kategorie der Dokumentarfotografie noch in die der Kunstfotografie. Haywards fotografischer Impetus ist der des Sehens und des Festhalten von gesehenen Objekten und Situationen. Sie verweist damit auf die „assoziative“ Dimension im Bilder-Lesen, indem sie die plastischen Qualitäten der von ihr aufgespürten Gegenstände zu denen ihrer eigenen Artefakte in Relation setzt. So wie sie in ihren Plastiken an den Gesetzmäßigkeiten von Gleichgewicht und Labilität interessiert ist, an den Aggregatzuständen von Materie zwischen Fließen, Verhärten und zäh Schmelzen, so sind es die Unsicherheiten und Irrealitäten, bisweilen das anekdotenhaft Skurrile an den gesehenen Objekten im Naturraum oder in Parks, die ihr auffallen. Mit manchmal absichtlich unscharfer, ja geradezu fehlerhaft gehandhabter Fotografie, bei der es Fehlfarben und Unschärfen, Über- und Unterbelichtungen geben kann, dokumentiert sie die spontan aufgefundenen Gegenstände. Dennoch ist es ein genaues Herausarbeiten der Objekte aus ihrer Umgebung, ein Abwägen von beleuchteten Teilen und unbeleuchteter Sphäre, ein Meißeln mit Licht, ein Formen mit Schatten, ein Sezieren mit Konturen und ein Festhalten von Zeit, die sich in Helligkeit und Dunkelheit auf den Objekten abzeichnet.
Julie Hayward ist keine Verfechterin oder Apologetin einer bestimmten fotografischen Praxis. Sie agiert mit den technischen und optischen Möglichkeiten ganz nach den Erfordernissen ihrer Bild-Objekte: mal ist das Statisch-Kontemplative einer fixierten Kamera gefragt, mal das Spontan-Zupackende einer kleinen Digicam, mal ist es das genaue Hantieren mit einer ausgefeilten Optik, mal kann sie ganz darauf verzichten und vertraut sich den Eigengesetzlichkeiten der Kamera an.
Die Summe dieser Fotografien mutet weniger wie eine kontinuierlich vorangetriebene Serie oder ein vorab entworfener Zyklus an, sondern setzt sich aus den ikonischen Beutezügen zusammen, die die Künstlerin auf ihren ausgedehnten Spaziergängen und Querfeldeinwanderungen unternimmt. Eine pointiert akzentuierte Farbigkeit, für die sich die digitalen Medien besonders eignen, ist die einzige Veränderung, die die Künstlerin an ihren teils analogen, teils digitalen Aufnahmen vornimmt und die den aufwändigen Pigmentprints eine unwirkliche, künstliche Atmosphäre verleiht.
Unwillkürliche Skulpturen
Bilder-Finden anstatt Bilder-Herstellen – dies war erstmals im Surrealismus eine Strategie, Kunst jenseits von Kunst in den eigenen kreatürlichen Kosmos zu integrieren. Der von den Surrealisten der ersten Stunde sehr geschätzte Fotograf Brassaï, berühmt für seine Sicht auf das nächtliche Paris und auf die Protagonisten der Demi-Monde, hatte seine Vorliebe für die Randerscheinungen der Kunst und die spontanen Entäußerungen ungewollter Kunstproduktion entdeckt. Er schuf eine Serie von Fotografien, die er „sculptures involontaires“ nannte und die André Breton in seiner Zeitschrift „Minotaure“ 1933 veröffentlichte. Seine „unwillkürlichen Skulpturen“ sind Fotografien von Alltagsgegenständen, banalen Objekten, weggeworfenen Dingen, denen er durch sein Sehen und Sichern mittels Fotografie eine verstörende poetische Bedeutung zukommen ließ: ein geknicktes Busticket, ein eingerolltes Zettelchen, drei liegende Streichholzköpfchen, ein Stück Seife – Brassaïs Augenmerk galt dem Unscheinbaren, dem Übersehenen, dem Nicht-Ansichtigen. Er sah die irritierende Schönheit dieser „Skulpturen“, die unwillkürlich ihre plastische Gestaltung angenommen hatten – sie sind nicht „gemachte“ Kunst, sondern „gewordene“ Objekte. Und diesen Bildern attestierten Brassaï und die Surrealisten „Kunstcharakter“, ja sie galten möglicherweise mehr als herkömmlich angefertigte Kunstwerke, da sie – den Surrealisten entsprechend – etwas Unbewusstes, Ungewolltes und damit Authentisches hatten.
Wie in den Fotografien von Julie Hayward ging es bei Brassaï und seiner Rezeption durch die Surrealisten eben nicht um die Objekte und deren Präsenz, sondern um die Bilder von diesen Gegenständen. Diese Fotografien zeichnen sich also nicht durch ihre dokumentierende Sprache und die indexikalische Mitteilung aus, sondern dadurch, dass sie eine eigene Bildwirklichkeit erst herstellen. Und vom Betrachter wird erwartet, dass er den ursprünglichen Funktionszusammenhang und die eigentliche Genese der abgebildeten Gegenstände „vergisst“. So wie im Normalfall beim Lesen und Analysieren von Bildern dem Faktum der Erinnerung große Bedeutung zukommt, also dem Miteinbringen von Gewusstem in die Bildinterpretation, so wird im speziellen Fall der „unwillkürlichen Skulpturen“ gerade darauf explizit verzichtet. Gesehen werden soll die plastische Qualität der abgebildeten Gegenstände, und mit dem Erkennen dieser Charakteristika kann sich dann eine formale und emotionale Entsprechung einstellen. Brassaïs Fahrschein gibt nicht Auskunft über eine individuelle Metrostation oder einen bestimmten Tag, sondern über die Dreidimensionalität einer Kartonrolle von matter, rauer Oberfläche, wobei die Isolation des Objekts aus jeder Art von lesbarer Umwelt auch die tatsächliche Größe und Abmessung des ursprünglichen Gegenstandes im Dunkeln lässt. Julie Hayward konfrontiert den Betrachter mit einer Ansammlung von anonymen Situationen an unbestimmten Orten. Dominiert werden diese kryptischen Szenarien von unwillkürlichen Skulpturen, Objekten und Dingen, die zu etwas geworden sind, was niemand intendiert hat. Was sie ursprünglich waren, mögen sie selbst schon vergessen haben – für die Fotografie wurden sie zu Bildmotiven, die einen assoziativen Freiraum für Bildanalogien eröffnen. Hier hakt die Fotografin ein, die als Künstlerin von der symbolischen Gestaltung von Welt durch Bilder überzeugt ist, und trifft auf die Bildhauerin, die in der Welt die gestalteten Objekte ausmacht. Julie Haywards Welt ist voll von symbolischen Anspielungen und Erweiterungen. Als Mittel des Antriebs für die Imagination dient ihr das formale Repertoire ihrer skulpturalen Objekte: dies deutet auf ein medizinisches Gerät hin, jenes auf ein technisches Detail, dieses Material steht für perfekte Verarbeitung und Präzision, jenes für ungute haptische Erfahrung, diese Farbe bedeutet Kälte und Distanz, jene Sinnlichkeit und Wärme. Aus diesen Komponenten setzt sie neue, unbekannte, unerkannte Objekte zusammen, die ebenso über ihre bloße Präsenz hinausweisen: Wozu mögen sie dienen, sind sie unheimlich, symbolisieren sie eine unbekannte Dimension?
Indem wir die ursprüngliche Genese der fotografierten Gegenstände zu vergessen trachten, können wir sie dem formalen Vokabular und damit dem individuellen Symbolschatz von Haywards Œuvre zuweisen und ihnen neben den willkürlichen Skulpturen der Künstlerin eine Existenz als Bilder von unwillkürlichen Skulpturen attestieren.
Der Raum des Plastischen
Da im Allgemeinen KünstlerInnen, die sich mit dreidimensionalen Gestaltungen befassen, nach den Werken ihrer kreativen Tätigkeit benannten werden, also ObjektkünstlerInnen, BildhauerInnen oder Raum- beziehungsweise InstallationskünstlerInnen, so ergibt sich ein Rückschluss beziehungsweise eine Rückkoppelung von der Phänomenologie des Werkes auf dessen physische Präsenz. Notwendigerweise hat eine Skulptur, ein Objekt, ja auch eine Performance oder eine Projektion eine vorhandene räumliche Gegebenheit als Grundvoraussetzung. Nur im Raum (und sei es der mediale, scheinbar grenzenlose Raum des World Wide Web) manifestiert sich die Anwesenheit einer künstlerischen Artikulation. Das Werk wird vom Rezipienten durch seinen visuellen Dialog mit dem Kunstobjekt erfahren und wahrgenommen. Dies ist der Sinn von Kunstpräsentationen, sei es im Galerieraum, im Künstleratelier, im Museum, im „Schau-Raum“ von Katalogen und Kunstbüchern, von Vorträgen oder partizipatorischen Projekten. Raum wird für und durch Kunstobjekte gestaltet.
Mit ihren neuen Ausstellungskonzeptionen überschreitet Julie Hayward nun diese gläsernen Wände der Kunst-im-Raum-Präsentation, insofern sie einerseits diese Raumdimension für die Präsentation ihrer objekthaften Werke, ihrer installativen Arrangements nutzt, andererseits aber einen neuen Raum des Plastischen einführt. Sie kommentiert und erweitert ihr eigenes plastisches Schaffen mittels Fotografien, die eine zusätzliche Raum- und Objekterfahrung ermöglichen: in der Kombination ihrer komplexen Skulpturen aus Metall und Kautschuk, ihrer geronnenen Artefakten aus Gussformen und Modeln mit den gänzlich anders gearteten Fotografien ergibt sich ein spannungsgeladenes Gegenüber von Ähnlichkeit und Differenz, von Entsprechungen und dem unauslotbaren Raum zwischen formalen Verwandtschaften und inhaltlichen Antipoden.
In ihrem sporadischen fotografischen Werk ist Julie Hayward – wie in ihren skulpturalen Positionen – ganz „Seherin des Räumlichen“; sie ist dem Raum des Plastischen auf der Spur und macht ihn in ihrer unmittelbaren Umgebung aus. Indem sie der Natur, den unwillkürlichen Kräften und Energien von Wasser und Wind, Vegetation und Erdreich wie auch den Resten und Zeichen von menschlichen Alltagshandlungen gestalterisches Potenzial zugesteht, adoptiert sie diese „Raumansichten“ in ihr plastisches Werk. Der Raum des Plastischen ist damit für Julie Hayward der potenziell immer vorhandene Raum für skulptural Gestaltetes – unabhängig davon, ob ein Kunst-Raum mit installativen Objekten definiert wird, ob ein Natur-Raum zur Szene für unwillkürliche Kunstwerke wird oder ob ein medialer Raum als Plattform für die Auseinandersetzung mit den Besonderheiten von Wahrnehmung ganz allgemein dient.