Coming home oder: Ankunft in der Fremde
Anmerkungen zu Julie Haywards Arbeiten
Andreas Höll

Den schillernden Begriff Heimat umschrieb einst der Philosoph Ernst Bloch als »etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war«. Der berühmte Schlüsselsatz aus seinem Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung« skizziert die Utopie eines gelungenen Lebens: daß der Mensch in der Arbeit zu sich kommt, seine eigene Fremdheit und zugleich die Entfremdung in der kapitalistischen Welt überwindet. Sein Glücksversprechen heißt: Im Prozeß der Geschichte kommen wir – allesamt aus dem Paradies Vertriebene – endlich nach Hause.
Doch das Daheim-Sein in der Welt, oder besser: die Suche nach dem Heim, schließt auch das Un-Heimliche mit ein. Im vertrauten Zu-Hause verbirgt sich stets das unbekannte Draußen, das Fremde. Das vermeintlich Natürliche enthält immer auch das Unnatürliche. Das Gemüt und das Gemütliche schließlich werden sprichwörtlich vom Ungemütlichen bedroht, wie die Seele und das Beseelte vom Unbeseelten. An diesem kritischen Punkt setzen die Arbeiten von Julie Hayward an. Sie spielen mit der vielschichtigen Spannung von Nachhausekommen und Verlorensein, von Zusich-Kommen und Selbstentfremdung, von der Begegnung mit dem Bekannten und der Verfremdung.

Da ist zunächst »… coming home«. Das Objekt erinnert einerseits an eine futuristische Wiege, die Geborgenheit verheißt. Zum andern läßt sie an ein Biotechlabor denken. In zwei Schüsseln sind perlenähnliche Kugeln aufgehäuft: gigantische Zellhaufen oder künstlich produzierte Biomasse? Getrennt sind beide Gefäße durch eine Scheibe mit einem Loch, das wiederum dieselbe Form hat wie die Schüsseln. Diese Anordnung suggeriert einen mechanischen Vorgang. Die fallbeilartige Apparatur könnte einen Bewegungsablauf in Gang setzen. Möglicherweise so etwas wie eine sterile Befruchtung, wenn sich die Zellhaufen auf rätselhafte Weise vereinigen sollten. Das bizarre Gerät mit dem Science-Fiction-Appeal scheint künstliches Leben hervorzubringen. Doch zugleich bietet es womöglich einen Schutzraum, in dem das Geschaffene gedeihen und wachsen kann.
Die getrennten Perlengefäße erlauben aber auch eine andere Interpretation. So könnte es sich um Kugeln handeln, die mittels dieser Apparatur sorgfältig eingesammelt, zusammengehalten und vielleicht auch bearbeitet werden. Statt Befruchtung ginge es dann vielleicht um das Aufbewahren, Ordnen oder Zusammenfügen. Der sterile Laborcharakter der Skulptur wird indessen durch den weißen Lack verstärkt, während der weiße Plüsch ihr etwas Organisches verleiht. Diese ebenso reizvolle wie irritierende Verbindung von technoiden und organischen Formen kennzeichnet die Skulpturen von Julie Hayward. »TV-Baby« zählt ebenfalls zu jenen Zwitterwesen, welche die Mechanismen einer künftigen Biotechnologie evozieren. Wiederum bleibt rätselhaft, wie der plastische Cyber-Organismus funktionieren soll. Zugleich ist die Arbeit eine vieldeutige und ironische Chiffre für die mediale Auflösung der Wirklichkeit: Es ist überhaupt nicht mehr klar, wer Sender, wer Empfänger und was die Nachricht ist. Diese diffuse Macht der Medien bestrahlt und infiziert die seltsam amorphe Masse des undefinierbaren, wehrlosen und nackten Etwas. Es ist eine repressive Idylle, die im Flimmern der imaginierten Moving Images offenbar wird: Der Sog der Bilder scheint das eigene Leben, das eigene Bewußtsein aufzusaugen und in die totale Regression einer molluskenhaften Existenz zu führen. Die Welt des Scheins, die Wirklichkeit zu spiegeln vorgibt, bringt bloß noch scheinhaftes Leben im Abglanz des Fernsehers hervor.

Auch »Sweet Lullaby …« verkörpert jene rätselhaften Gesetze. Zwei Monitore – durch Schläuche wie Nabelschnüre miteinander verbunden – wiegen ein pelziges Wesen in einem Körbchen. Doch die Skulptur hat keinen festen Boden mehr unter sich. Sie schwebt im Raum und unterstreicht so das Traum- wie Albtraumhafte, das im Titel ironisch an¬klingt. Zugleich mag sie an Goyas berühmte Radierung »Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer« erinnern und diese ins dritte Jahrtausend transformieren. Denn statt dem Horror der Bilder und den Fratzen der Dämonen zu folgen – die Goya in aufklärerischem Furor vorführte –, verweist Julie Hayward auf den sanften Terror der Bewußtseinsindustrie und die Manipulationsstrategien im virtuellen Zeitalter. Ein süßes Wiegenlied wird gesungen. Doch man weiß nicht, ob sich etwa die haarige Larve bloß als Tamagotchi entpuppt, das durch digitale Hege und Pflege am Leben erhalten wird. Oder trägt sie einen Virus in sich, der Gefahr bringt?
Die Objekte Julie Haywards eröffnen Projektionsflächen, die eine suggestive Logik entfalten. Gerade weil sie – trotz aller Monitore und Bildschirme – auf eingespeiste Bilder, sei es Foto-, Film- oder Videomaterial, konsequent verzichten, funktionieren sie als Blackbox für unsere Imagination. Es sind Ort-Zeit-Raum-Träume, die zwischen verschiedenen Dimensionen fließen und einen Transfer zwischen äußeren und inneren Bildern in Gang bringen und mitunter sogar eine fortlaufende Geschichte erzählen. Der »Transformator« etwa zeigt, wie das in der Wiege gehätschelte Plüschwesen von «»Sweet Lullaby« auf einmal zerteilt und in zwei würfelförmige Käfige gesperrt wird. Ist es der Iron Cage, das »stählerne Gehäuse« der Rationalität, wie Max Weber das Gefängnis des westlichen Bewußtseins beschrieben hat? Oder handelt es sich um Käfighaltung für gefährliche Organismen im Hightechlabor?
Käfig- und Gitterstrukturen gehören jedenfalls zum festen Formenrepertoire von Julie Hayward. Bei »Oops« bilden sie die Konstruktion für ein phallusartiges Gebilde, das bedrohlich im Raum schwebt und – der flapsige Titel deutet gleichermaßen Überraschung wie Peinlichkeit an – seine rätselhafte Macht in statu erectionis entfaltet.
Auf vieldeutige Art und Weise ist die Dimension des Sexuellen in Haywards Arbeiten präsent. Oftmals nur unterschwellig, dann deutlicher, wenn riesige Phalli die Skulpturen dominieren, schließlich explizit, wenn eine Arbeit »Sublimator« heißt. Das Objekt ist eine Art Labormaschine, die vom Zufluß pulsierender Energien lebt, welche nach einem Umwandlungsprozeß unter einer transparenten Hülle letztlich »verwurstet« werden. Es ist eine hintersinnige Metapher für den Sublimationsbegriff Freuds, nach dem die Vergeistigung der sexuellen Triebkräfte die Voraussetzung aller Kunst und Kultur ist. Zudem erinnert sie sehr bildhaft daran, daß nicht alles, was der menschliche Geist an Kulturleistungen hervorbringt, die Sphäre des Fleischlichen hinter sich lassen kann. Und so mag es nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende, wenn alles durch den Fleischwolf gedreht wurde, sprichwörtlich um die Wurst gehen.

Bei allem Sinn für Ironie und – auch – Humor geht es bei den Skulpturen Julie Haywards niemals um das platte Illustrieren psychoanalytischer, biotechnischer oder medientheoretischer Diskurse. Die Objekte sind offen genug, um eine Brücke zu noch unbewußten Ausformungen der Lebenswirklichkeit zu schlagen. Es mögen Sensoren für Künftiges sein, wie einst Walter Benjamin in einer Notiz zu seinen Kunstwerk-Thesen formuliert hat: »Die Menschheit mit bestimmten Bildern vertraut zu machen, ehe noch die Zwecke, in deren Verfolgung dergleichen Bilder entstehen, dem Bewußtsein gegeben sind.«
In diesem Sinne entwirft Julie Hayward ihre Versuchsanordnungen. Sie verstrahlen ebenso den Reiz des Futuristischen wie die Erinnerung an vergangene Utopien, das Flair des Surrealen wie des rationalen Kalküls. Es sind seltsame Parallelwelten, die zwiespältige Gefühle evozieren und unterbewußte Ängste wachrufen. Sie verfremden das vermeintlich Vertraute und führen vielleicht auch zu der unbehaglichen Erkenntnis: Daheim ist in der Fremde.


Erschienen im Eigenverlag
Julie Hayward, Zeichnung und Skulptur, 2005