El sueño de la razón produce monstruos
Zu den Zeichnungen von Julie Hayward
Barbara Wally

Julie Haywards Werk hat sich seit ihren Anfängen als Künstlerin von keramischen Arbeiten hin zur Skulptur, zum Objekt und zur Installation entwickelt. Ihr ursprünglicher Werkstoff Ton wurde durch eine Vielzahl anderer, teils traditioneller, teils ungewöhnlicher Materialien abgelöst. Diese Kunst-Materialien gewannen im Zuge der Entwicklung ihrer Themen immer mehr an Bedeutung für das Werk. Solche „Werkstoffe“ werden von der Künstlern strategisch eingesetzt, um Erinnerungen zu wecken, paradoxale oder schwer kontrollierbare Emotionen auszulösen, Konnotationen und Irritationen hervorzurufen oder die Bedeutungsebenen des Werks zu erweitern.
Parallel dazu – und in letzter Zeit immer häufiger – entstanden Zeichnungen, welche die Künstlerin bis vor kurzem selten zeigte. Sie hielt sie sozusagen à l’abris, abgeschieden von den anderen Arbeiten und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. In ihren Arbeitskatalogen und dem Anschauungsmaterial, das sie Fachleuten zeigt, präsentiert sie die Zeichnungen streng gesondert von den Katalogen der dreidimensionalen Arbeiten. Zwar ist sie sich der Wichtigkeit ihrer grafischen Arbeiten im Gesamtwerk zunehmend bewußt, doch sind ihre Zeichnungen ihr selbst etwas unheimlich, und sie vermag sie nicht recht einzuordnen. Inzwischen aber drängen diese immer mehr ans Tageslicht und werden hier auszugsweise vorgestellt.
Die vorliegende Präsentation von Zeichnungen und Objekten weist nun erstmals nach, daß die Objekte, Skulpturen und Installationen der Künstlerin stets in Zeichnungen „erdacht“ und konzipiert wurden – wenn auch bei weitem nicht alle Zeichnungen in dreidimensionale Konfigurationen transferiert wurden. Fast alle Zeichnungen entstehen auf einfachen DIN-A4-Schreibmaschinenpapierbögen und sind mit einem eher „reibungslosen“ Büro-Fineliner gezeichnet. Sie sind also nicht als künstlerische Arbeiten auf wertvollem Papier angelegt, sondern haben von der Materialwahl her den Charakter von Niederschriften, Notizen, Aufzeichnungen.

Julie Hayward bezeichnet den Vorgang der Schaffung dieser Zeichnungen als „automatisch“ oder „automatistisch“. Die Verwendung dieses Begriffs führte dazu, daß ihre Haltung als surrealistisch interpretiert wurde, während die Künstlerin selbst auf einer psychologischen Ebene eher eine Nähe zu Gerhard Rühm und seiner Zeichenhaltung vermutet. Solche Bezüge sind jedoch aus den Zeichnungen Gerhard Rühms nicht ableitbar – schon weil Julie Hayward immer vorrangig dreidimensional  denkt und arbeitet. Mit den Strategien der Surrealisten, das scheinbar tief vergrabene Unbewußte mittels Trance oder Hypnose, Planchette, Blind- und Linkshändig-Zeichnen ans Tageslicht zu befördern, sind Julie Haywards Zeichnungen jedenfalls nicht zu deuten. Wenn ein Wesensmerkmal „automatischer“ Zeichnungen „das Hervortreten des Gedankens in seinem ursprünglichen Zustand“ (J. Starobinski) ist, dann wäre der ursprüngliche Zustand der Gedanken von Julie Hayward jedenfalls präzise konzipiert und rational ausformuliert.
In der Tradition der Bildhauerzeichnungen stehen Haywards Arbeiten auf Papier in der Nachfolge von Eva Hesse und Louise Bourgeois insofern, als sie lineare Vorahnungen und Vorformulierungen von dreidimensionalen organisch-technoiden „Verkörperungen“ und „Materialisierungen“ sind. Julie Hayward nennt ihre Zeichnungen vor allem deshalb „automatisch“, weil sie absichtslos, plan-los und in gewisser Weise bewußt-los entstehen. Die Zeichnungen „passieren“ ihr in einem abwesenden Zustand, der nichts mit der Wahrnehmung der Außenwelt zu tun hat, sondern scheinbar unkontrolliert aus ihrem unbewußten Inneren fließt. Oft entstehen so mehrere Zeichnungen in Serie, akkurat ausgeführt, mit der präzisen Linienführung einer technischen Zeichnung, ja einer schematischen Bauanleitung. Die Spur der Linie, der Strich, enthält keinerlei Irregularitäten, verrät nichts über Emotionen, motorische „Entgleisungen“, Geschwindigkeit, Verzögerung, An- und Absetzen des Zeichengeräts, der Hand, der Nerven und Muskeln und des sie führenden Gehirns. Die Linienzeichnung steht perfekt wie „gegossen“ auf dem Blatt Papier, und manchmal erkennt man nicht einmal, wo sie begonnen und an welcher Stelle sie beendet wurde. Sie selbst beschreibt die Voraussetzungen für den richtigen „Zeichnungs-Zustand“ wie folgt:
„Um diesen Zustand zu erreichen, brauche ich absolute Ruhe und Zeit. Dann dauert es oft Stunden, bis ich reinkomme, viele Vorzeichnungen werfe ich weg, denn sie sind uninteressant. Dann aber kommt ein Punkt, wo Neues auftaucht, oder Elemente, die mich interessieren. Dieser Moment ist spannend und es fordert große Aufmerksamkeit, damit er nicht entfleucht oder ich ihn selbst zerstöre, indem ich zu früh zu denken beginne. Wieviel Zeit ich brauche, um zu dem Punkt zu kommen, ist unterschiedlich und hängt sehr von der allgemeinen Verfassung ab. Manchmal geht es gut, dann wieder gar nicht. Ich habe gelernt, geduldig zu sein. Es ist wie der Versuch, morgens noch einen Traum zu erhaschen – am Anfang erinnert man sich nur an Bruchstücke, dann an ganze Abläufe und irgendwann an mehrere Abläufe hintereinander, wenn man die Bruchstücke geschätzt hat."

Julie Haywards Zeichnungen sind das Gegenteil von „unvollendet“, sie sind stets sehr vollständig ausgeführt, ja in ihrer Akkuratesse und Komplettheit erinnern sie an manche Zeichnungen feministischer Künstlerinnen aus den 70er Jahren, welche die Rolle der „ordentlichen, adretten“ Frau hinterfragten. Ich denke hier an Birgit Jürgenssens Hausfrauenzeichnungen, an die „Womanhouse“-Arbeiten aus „The kitchen“ in New York, aber auch an Gisela Breitling oder Dottie Attie. Ein ganz eigener Stil, präzise und kühl analysierend wie der magische Realismus, distanziert dokumentierend mit scheinbarer Emotionslosigkeit, perfekt – und von einer gewissen erstarrten Leere.
Unter den Zeitgenossinnen fällt mir nur Ulrike Lienbacher ein, die mit sparsamem, emotionslosem Kontur Frauengestalten andeutet, deren Haar aber mit tausenden Linien akkurat aufs Papier bringt. Die Zeichnung scheint hier als ein Medium Anwendung zu finden, mit welchem der/die Zeichnende Kontrolle über den dargestellten Gegenstand – und damit sich selbst – gewinnt, wobei dieser Gegenstand häufig sehr wohl emotionsgeladen und spannungsreich ist.
Hier sind wir nun beim Inhalt und bei den Themen von Julie Haywards Zeichnungen angelangt, und hier scheint mir die Nähe zum absurden Surrealismus (nicht zuletzt eines Gironcoli, aber auch amerikanischer ObjektkünstlerInnen und BildhauerInnen) durchaus nachvollziehbar. Denn Julie Hayward zeichnet in kühl distanzierten Linien imaginierte Gebilde, die als Hybride zwischen Leben und Maschine angelegt sind und eine Vielfalt von Konnotationen und Irritationen beim Betrachter auslösen. Die Wirkung dieser „Monster“ wird gerade durch die scheinbar kühle Distanz in der Darstellung noch erhöht, steigert sie doch die Befremdlichkeit beim Betrachter. Die Gebilde agieren im leeren Raum – nichts deutet auf dem Zeichenblatt auf irgendeine Umgebung, einen Ort der Handlung. Ja, es fragt sich, ob es hier überhaupt um Handlungen, um Agieren geht. Zwar sind die Gebilde mit allerhand Fühlern, Sensoren, Werkzeugen, Gliedern, kommunizierenden Röhren, Tentakeln, Drähten etc. ausgerüstet und es gibt – vor allem in den neueren Zeichnungen – viele Materialien, häufig unzählige Kugeln oder Perlen, die für einen Verarbeitungs- und Beförderungsprozess bestimmt zu sein scheinen. Doch die Apparaturen stehen still, verharren mit ihren überfrachteten Attributen in der Leere des Raums. Manche dieser hybriden Gebilde sind geschlossene Formen, eignen sich also gut zur späteren Materialisierung in Skulpturen und Objekten. Andere sind eher prozeßhaft, in Auflösung begriffen oder bereit zur Veränderung des Aggregatzustandes, sind also nicht dauerhaft materialisierbar. Eine dritte Gruppe, die zur Zeit mehr und mehr in den Vordergrund tritt, besteht aus vielen verschiedenen Einzelelementen, welche vielfältige Kombinations- und Aktionsmöglichkeiten suggerieren.
Während die Zeichnungen den Betrachter aufgrund der Paradoxie von Leere und Fülle, von kühl rationaler Linie und irrationalen Darstellungen irritieren, wird das Bedrohungsszenario bei den Objekten und Skulpturen noch durch weitere Faktoren gesteigert: Zum einen durch den umgebenden Raum und die häufig ausladende Größe der Objekte, die der Betrachter umschreiten und sich dabei vor ausgestreckten, in den Raum ragenden Tentakeln, Röhren, Schaufeln und sonstigen Protrusionen in acht nehmen muss. Zum anderen wirken die verwendeten Materialien, die ja in den Zeichnungen durch Schraffuren oder ähnliche Linienstrukturen nur angedeutet werden können, als Auslöser von Erinnerungen, Gefühlen, Ängsten und Verstörungen. Bei den Skulpturen lösen die Materialien und ihre Kombinationen, Farben, Gerüche und Oberflächen oft Paradoxien von heimeligen und unheimlichen Konnotationen aus – während Heimeligkeit in den Zeichnungen völlig fehlt. Eine zusätzliche Dimension erhalten die Skulpturen durch eine subtile und subversive Störung bzw. Mißachtung der physikalischen Gesetze von Gleichgewicht und Schwerkraft oder durch eine gestörte Relation von Masse/Transparenz, Schwere/Leichtigkeit, Materialität/Immaterialität. Auch hier operiert Julie Hayward mit explosiven Mischungen von widersprüchlichen, ambivalenten und irrationalen Ingredienzien, die ihren Objekten Power und verstörende Wirkung verleihen.
Am Anfang aller künstlerischen Arbeit steht jedoch stets die Zeichnung, hier schöpft die Künstlerin aus den „sueños de la razón“ (den Träumen der Vernunft) ihre Ungeheuer.


Erschienen Im Eigenverlag
Julie Hayward, Skulpturen und Zeichnungen / Sculptures and Drawings, self-publication, Vienna 2005, ISBN 3-200-00322-7